Geschichte der Betriebsverfassung – Teil 1

In diesem Seminar aus dem Jahr 1977 lenkt Wolfgang Abendroth den Blick auf den Kampf der Arbeiterbewegung um innerbetriebliche Rechte, um Mitbestimmung und Kontrolle von Betrieben.

Wie immer präsentiert Abendroth keine Geschichte, in der sich der soziale Fortschritt automatisch Bahn bricht. Vielmehr führt er durch eine Geschichte permanenter Kämpfe, sich wandelnder Kampfbedingungen und Widersprüche.

Wir publizieren hier einzigartige Filmdokumente mit Wolfgang Abendroth. Sie wurden aus technischen Gründen in sechs Teile geschnitten. Die Filme sind jedoch ungekürzt.
Zur besseren Orientierung haben wir die wesentlichen Inhalte mit Positionsangaben im Video zusammengefasst.


Monopolkapitalismus, Imperialismus und der Versuch, die Arbeiterschaft national einzubinden

00:00: Abendroths Vortrag beginnt mit der Zeit des aufkommenden Imperialismus und mit dem Ende der Sozialistengesetze von 1890: Hier begann für ihn eine neue Etappe im Kampf um die politischen Rechte von Arbeitnehmern und eine neue Phase des gewerkschaftlichen Kampfes.

Diese neue Periode war laut Abendroth mit zwei miteinander verbundene Entwicklungen gekoppelt.

01:00: Zum einen setzte sich die Tendenz durch, dass sich kapitalistische Konzerne zusammenschlossen und miteinander verbanden – ein Vorgang, der später in der marxistischen Diskussion als „Monopolkapitalismus“ beschrieben worden ist.
Zum anderen begann ein Kampf um die Märkte der Kapitalisten aus verschiedenen Ländern – das Zeitalter des Imperialismus, in dem die wachsende Rüstung zunächst zu einer relativ stabilen Produktion für Montage- und Rüstungsgüter in den jeweiligen Nationalstaaten führte. Abendroth sieht hier den Beginn einer Entwicklung, die er selbst als „Rüstungskapitalismus“ bezeichnet.

06:07: Zusammen mit den industriellen Kapitalisten und den feudalen Schichten organisierte nun die Staatsgewalt eine Politik gegen die seit 1890 wieder legale freigewerkschaftliche Bewegung:
So wurden den Arbeitern im Bergbau bestimmte Betriebsvertretungsrechte eingeräumt, um diese als Bundesgenossen einzubinden und spontan ausbrechende klassenkämpferische Aktivitäten in Schranken zu halten.
Parallel entwickelten sich die ersten Vorformen einer Arbeitsgerichtsbarkeit. Auch damit wollte man, durch die Gewährung kleinster Rechte, die Kampfkraft der Arbeiter brechen und diese vom klassenkämpferischen Denken abbringen.
Diese arbeitsrechtlichen Tendenzen spielten sich auch in der kapitalistischen Wissenschaft durch. Abendroth nennt hier als Beispiele die „Kathedersozialisten“ Lujo Brentano und Max Weber.  Diese Wissenschaftler argumentierten, dass man die Arbeiterschaft zähmen und für den Fall eines imperialistischen Krieges einbinden könnte, wenn man ihr nur einige sozialpolitische Rechte zugestand.
Und so entwickelten sich die Rahmenbedingungen, die 1905 zur Bergarbeitergesetzgebung unter Wilhelm II führten – einer wichtigen Etappe auf dem Weg zu mehr Mitbestimmung in den Betrieben.


Industriegewerkschaft und Tarifverträge als Antwort auf die neuen gesellschaftlichen Kampfbedingungen

11:48: In dieser Periode hatten die Gewerkschaften noch berufsgewerkschaftliche Formen. Die Gewerkschaftsbewegung spaltete sich also nicht nur in freie, christliche und Hirsch-Dunckersche Richtungsgewerkschaften auf, sondern gliederte sich auch in verschiedene Berufsgruppen. Dadurch blieben die Gewerkschaften in ihrer Kampfkraft gegenüber den monopolistisch zusammengeschlossenen Konzernen geschwächt.
Abendroth betont, dass die Gewerkschaften lange keine organisatorische Entsprechung gefunden hatten, um diesen neuen Unternehmensformen wirksam entgegentreten zu können. Nur selten hätten sich Gewerkschaften in die für die Periode adäquate Form der Industriegewerkschaft weiterentwickelt.

14:52: Wie nun Abendroth weiter ausführt, hatte das auch zur Konsequenz, dass es den Gewerkschaften schwerfiel, die erkämpften Erfolge rechtlich abzusichern. Das könne man seiner Meinung nach am Problem des Tarifvertrags sehen.
Der Tarifvertrag ist für Abendroth die rechtliche Grundlage, um generell für alle Mitarbeiter eines Betriebs oder einer Branche die Lohnbedingungen und andere Formen der Entlohnung durchzukämpfen.
In den freien Gewerkschaften der wilhelminischen Zeit habe man aber noch lange gestritten, ob man überhaupt Tarifverträge abschließen und sich dadurch dauerhaft binden solle. Man hatte Angst, dass in diesen arbeitsgemeinschaftlichen Zusammenhängen die Kampfbereitschaft sinken könne und sich die Arbeiter der Illusion hingeben, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteresse identisch sei.

17:52: Und so dauerte es laut Abendroth noch bis zum Ende der 1890er Jahre, bis sich in den Gewerkschaften eine andere Auffassung durchsetzte. Die Gewerkschaften hätten dann begriffen, dass Tarifverträge nur eine Art „Waffenstillstandsabkommen“ für eine bestimmte Zeit darstellen, deren Bedingungen man dann in einer neuerlichen Kampfsituation verbessern konnte.
Diese Waffenstillstandsabkommen sind für Abendroth keine Friedensabkommen und Tarifverträge müssen seiner Meinung nach auch nicht die Illusion nähren, dass die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern identisch seien, wenn die Arbeiter parallel über die gewerkschaftliche Bildungsarbeit die Verhältnisse entsprechend vermittelt bekämen.


Die Illusion: ein dauerhaftes Wachstum ohne Katastrophe

18:56: Die kapitalistische Wirtschaft hatte sich zwischenzeitlich erweitert und war im Übergang zum Rüstungskapitalismus. Eine Entwicklung, die sich laut Abendroth im ersten imperialistischen Weltkrieg entlud.
In dieser Phase bis zum Ersten Weltkrieg stieg auch der Lebensstandard der Arbeiter und es kam innerhalb der Arbeiterbewegung zu Auseinandersetzungen und zu Illusionen über die Beständigkeit dieser Wachstums- und Erweiterungswelle. Viele, auch Intellektuelle der Arbeiterbewegung, gingen nicht mehr davon aus, dass diese Entwicklung in einer Katastrophe enden könnte.

20:45: Schließlich wurde auch in der Universitätswissenschaft (z.B. von Max Weber und dem Verein für Socialpolitik) ein dauerhaftes, friedliches Wachstum vorhergesagt, das sich über die Ausbeutung der Kolonien finanziere. Dort wurde auch eine weitergehende sozialpartnerschaftliche Einbindung der Arbeiter angedacht.

24:12: Solche Auffassungen wurden nun von Teilen der Arbeiterbewegung in allen möglichen Modifikationen übernommen.
Ein Teil der Arbeiterbewegung glaubte, dass die Phase des Klassenkampfs generell beendet sei und man nun über vertragliche Regelungen vorankomme. Das Aufrüsten sei dabei in Kauf zu nehmen. Abendroth konkretisiert, dass neben Max Weber auch Eduard Bernstein zu der Auffassung gelangte, dass es wirtschaftlich zu keinen schweren konjunkturellen Erschütterungen mehr kommen könne. Auch der Kreis um die Sozialistischen Monatshefte habe in diese Richtung gedacht und innerhalb der Arbeiterschaft an Einfluss gewonnen.

27:12: Doch die Katastrophen ließen nicht lange auf sich warten, so Abendroth weiter. In der langfristigen Aufstiegsperiode lösten sich „Kleinkatastrophen“ (Krisen) und Konjunkturen ab. So erwiesen sich Eduard Bernsteins Prognosen als unhaltbar und die Prognosen der marxistischen Theoretiker, die das Gegenteil behaupteten, lagen am Ende richtig, wie Abendroth betont. Der durchschnittliche Gewerkschaftsfunktionär sei jedoch so vom Tageskampf eingenommen gewesen, dass er sich mit Theorie nicht mehr beschäftigen konnte, um die Verhältnisse durchzudenken.


Nationalismus gegen Klassenbewusstsein und Internationalismus

29:50: So sei im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg unvermeidlich da gewesen – eine Explosion, die die Arbeiterbewegung vor weitere gefährliche Entscheidungen stellte.
Die Führung der freien Gewerkschaften beschloss in diesem Moment sich zu unterwerfen, dem Krieg zuzustimmen und alle Arbeitskämpfe für die Kriegszeit einzustellen. Deren „Ja“ zum Krieg hätten in diesem Moment auch die Arbeitermassen geteilt.
Diese nationale Stimmung innerhalb der Arbeitermassen erklärt sich Abendroth unter anderem mit der Erziehung zu Patriotismus und zur Vaterlandsliebe. Hier sei ein Unterbewusstsein geschaffen worden, das das aus Arbeiterkämpfen gewonnene Gegenbewusstsein zurückgedrängt habe. Erst durch die Barbarei des Krieges und durch die Senkung des Lebensstandards hätte sich bei Teilen der Massen dieses Gegenbewusstsein wieder durchgesetzt.

38:10: Und erst dann gewannen ganz kleinen Teile höchstqualifizierter Funktionäre und Intellektueller (u.a. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring, Heinrich Brandler) in den Gewerkschaften und Parteien wieder an Boden.
Als Karl Liebknecht bei einer der ersten Demonstrationen gegen den Krieg 1916 eingesperrt wurde, entlud sich der Protest in einer ersten spontanen Streikwelle. Trotz der Niederlage dieser Streikwelle von 1916 hätten sich nun auch die alten Widersprüche wiederhergestellt. Ein Prozess, der sich so auch in allen anderen europäischen Ländern abgespielt habe.
Im Jahr 1917 kam es schließlich, angeregt durch die Oktoberrevolution, zu einer neuen Streikwelle.


Betriebsräte und Betriebsvertrauensleute – Widersprüche zwischen neuen kompromissorientierten und revolutionären Gruppen

41:15: Das kaiserliche Deutschland und die Gewerkschaftsführung hätten nun überlegt, wie sie solchen Entwicklungen vorbeugen können, um die Kampfkraft des eigenen Imperialismus gegenüber der Kampfkraft des Imperialismus der anderen Länder zu steigern. Und sie verfielen, so Abendroth, auf die „Kompromiss-Idee“ des Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes (6. Dezember 1916); einer weiteren wichtigen Wegmarke in der Geschichte der innerbetrieblichen Mitbestimmung. Mit diesem Gesetz wurden Arbeiter zum „Dienst“ für private Kapitalisten und ihre Monopole verpflichtet. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes wurde aufgehoben und politische Aktivitäten wurden unterbunden.
Allerdings wurde jetzt auch eine erste Form der betrieblichen Vertretung eingeführt. Die Regelungen im Bergbau wurden ausgeweitet und damit war die erste generelle Form der Betriebsräte geboren.

43:52: Die Arbeiter entwickelten parallel noch eine zweite revolutionäre Organisationsform: Nach der Oktoberrevolution 1917 entstanden im Zuge der neuerlichen Aktionswellen überall in Europa Betriebsvertrauensleute.

Diese Widersprüche zwischen der kompromisshaften und der revolutionären Gruppierungen wirkten von da an in die Gewerkschaften hinein.