Die geschichtspolitische Konzeption, die Abendroths historische Arbeiten bestimmte, hat er in den 1970er Jahren prägnant formuliert. (Abendroth 1978) Für den Dialektiker Abendroth stand der Einzelmensch immer in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, aus dem er nicht herausspringen kann. Und diese Gesellschaft entwickelt nun gesellschaftliche Gesamtvorstellungen, die sie braucht, um ihre Prozesse zu organisieren.

Geht es um die Emanzipation einzelner Gruppen, müssten sich diese, so Abendroth, aus den alten herrschenden Vorstellungen loslösen, die aber immer wieder, solange sie ökonomische Macht haben, auf sie einwirkten. Organisationsprozess und Meinungsbildung gehen hier Hand in Hand.

Für Abendroth war es Aufgabe von Gesellschaftstheorie und Praxis, dass sich der moderne Mensch der gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation bewusst und befähigt wird, diese Strukturen praktisch und theoretisch zu durchbrechen. Hierzu bedurfte es seiner Ansicht nach einer eigenen Geschichte der Arbeiterbewegung, die in ständiger Diskussion die bisherigen Strategien aufarbeitet.

In der Zeitschrift Das Argument betonte er 1978 den Sonderstatus der historischen Wissenschaften für die sozialistische Politik:

»Ohne Bestimmung des eigenen historischen Standorts und der geschichtlichen Entwicklungsformen, die die Klassenbewegung der abhängigen Arbeit hervorgebracht haben und immer neu hervorbringen, lassen sich strategisch angemessene Anweisungen für ihre Praxis nicht fixieren. Deshalb muß sich die Wissenschaft von der Geschichte der Arbeiterbewegung stets darüber im klaren bleiben, daß sie einen einheitlichen, alle seine Vereinzelungen und Besonderheiten umfassenden und in sich einordnenden Prozeß darzustellen hat, der hilft, die gleichsam durch die divergenten technischen Produktionsbedingungen und Produktionsmethoden des kapitalistischen Produktionsprozesses vorgegebene Schichtendifferenzierungen innerhalb der eigenen Klasse gerade auch in ihren geschichtlichen Veränderungen erkennbar zu machen, ihre jeweiligen Schranken zu thematisieren und dadurch beizutragen, sie im gemeinsamen Klassenbewußtsein aufzuheben.« (Abendroth 1978, 223)

Die historische Analyse wird damit völlig in einen kooperativ-kollektiven und dynamischen Lernprozess eingebunden: »Geschichte der Arbeiterbewegung ist also im Grunde gar nichts anderes als die Geschichte der Produktion und Reproduktion von Klassenbewußtsein, seiner Entfaltung und seiner Rückschläge«. In diese ideologiekritisch angelegten Forschungen und Darstellungen sind nach Abendroth einzubeziehen:

  • die Entwicklung der Produktivkräfte und der ökonomisch-sozialen Situation (einschließlich ihrer technischen Voraussetzungen),
  • das selbständige Auftreten verschiedener Schichten der abhängig arbeitenden Klasse gegenüber dem Kapital und der politischen Gewalt,
  • die Aneignung von Bewusstsein über diesen Verlauf in ihren gleichsam »spontanen« Reaktionen und Aktionen, ihren ideologischen Formen (höchste Stufe: gewerkschaftliches und politisches Klassenbewusstsein),
  • die theoretischen Diskussionen, die sich dabei ergeben,
  • die organisatorischen Versuche, diesen Prozess permanent zu erhalten. (Abendroth 1978, 222)

Abendroths bei Suhrkamp erschienene Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung (1965) ist ein Beispiel für diese Konzeption. Sie richtet sich nicht an ein unbestimmtes Publikum, sondern soll der Selbstaufklärung und Selbstverständigung der Arbeiterbewegung dienen. Dazu drehte Abendroth die Perspektive und schrieb eine Geschichte »von unten«. Er forderte in der Geschichte der Arbeiterbewegung, mit sozialpsychologischen Methoden insbesondere das Verhalten der Parteibasis zu erforschen.

»In Wirklichkeit sind ja die Darstellungen von bürgerlichen Historikern und die selbstbestätigenden Parteilegenden der verschiedenen Kommunistischen Parteien nur zwei Seiten ein und derselben Medaille: Sie alle gehen an der Realität vorbei, weil sie immer nur vom Standpunkt der Spitzenfunktionäre ausgehen, nie aber die Basis analysieren.« (Abendroth 1976, 73)

Abendroths Perspektivenwechsel folgt auch hier dem Interesse an den Emanzipationsbestrebungen der Basis, die sich auch im Interesse aller gegen Bevormundung, gegen Bürokratisierungs- und Entdemokratisierungstendenzen in den eigenen Reihen durchsetzen muss. Marxistische Wissenschaft, vor allem auch hinsichtlich der Erforschung und Darstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, unterlag nach Abendroth einem Handicap. Sie sei notwendigerweise »Oppositionswissenschaft gegen die herrschende Ideologie«. (Abendroth 1978, 224) Oppositionspolitik wird durch Geschichtsschreibung vermittelt, ist immer subjektive und operative Handlungsanleitung für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen, also gegen Prozesse der Entfremdung und Verdinglichung, die Herrschaft und Ausbeutung überhaupt ermöglichen.

Literaturnachweise

Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Gespräche aufgezeichnet und herausgegeben von Barbara Dietrich und Joachim Perels, Frankfurt 1976.

Zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Spontaneität und Organisationsentwicklung in der Geschichte der Arbeiterbewegung, in: Das Argument 106 (1978), 222-229.