Geschichte der Betriebsverfassung – Teil 3

Wolfgang Abendroth widmet sich in diesem Abschnitt seines Seminars zur Geschichte der Betriebsverfassung der Wiederherstellung der Gewerkschaftsbewegung und des Betriebsverfassungsrechts in den politischen Schranken der Besatzungsmächte nach 1945.

 

Zeit nach dem Ende des Dritten Reichs

00:00: Abendroth beginnt seine Schilderung der Nachkriegszeit mit dem Blick auf die Lage in den Betrieben. Dort befanden sich nach 1945 noch Massen an Zwangsarbeitern und Frauen. Ein großer Teil der industriellen Arbeiter war noch in der Armee und kehrte nur nach und nach aus der Kriegsgefangenschaft zurück.
Sie alle hätten die Erfahrung gemacht, dass das Dritte Reich und der Krieg gerade auch die Arbeitnehmer ins totale Verhängnis geführt hatte, während es den Arbeitgebern finanziell sehr gut ging.
Die gewerkschaftlichen Traditionen wurden wieder hergestellt und auch der Kampf um die Betriebsverfassungen wieder aufgenommen. Politisch ging es, wie nach dem Ersten Weltkrieg, um die künftige ökonomische Verfassung der Gesellschaft.

02:43: Allerdings erschwerten die „Kriegsnachfolgeprobleme“ (extremer Hunger, total zerstörtes Wohnungs- und Dienstleistungssystem sowie die Rückkehrmöglichkeiten der riesigen Zwangsarbeiterarmee) alle Fragen des Wiederaufbaus der Arbeitnehmerbewegung, sowie die Fragen des gesellschaftlichen Umbruchs.
Dazu kam, dass die deutsche Bevölkerung nach der totalen Kapitulation rechtlich über keine eigene Dispositionsgewalt verfügte: Die Dispositionsgewalt lag einzig bei den Besatzungsmächten. Und da die deutsche Bevölkerung kaum an der eigenen Selbstbefreiung mitgewirkt hatte, waren die Besatzungsmächte auch nicht bereit, allzu große Konzessionen an die Kräfte zu machen, die einen antifaschistischen Aufbau hätten durchführen können, so Abendroth.

05:55: Für die Arbeitnehmer bedeutete das, dass Gewerkschaften und Betriebsrechte nur soweit wieder entstehen konnten, als die Besatzungsmächte diese zuließen. Da die vier Besatzungsmächte jedoch ganz unterschiedliche Vorstellungen über die Nachkriegsordnung hatten, waren die Bedingungen, unter denen die Arbeiterbewegung wieder entstand, in jeder Besatzungszone unterschiedlich und kompliziert.


Reorganisation als Einheits- und Industriegewerkschaften

12:18: Trotzdem hatte sich, wie Abendroth ausführt, in diesem politischen Durcheinander eine einheitliche Tendenz herausgebildet. So fanden erstens in der letzten Phase des Dritten Reichs die zerstrittenen gewerkschaftlichen Kräfte im Widerstand zusammen. Bei allen politischen Unterschieden seien sich nun alle Richtungsgewerkschaften in den gewerkschaftlichen Belangen einig gewesen.
Sie wollten erstens eine breite Einheitsgewerkschaft schaffen, da alle Arbeitnehmer gegenüber dem Kapital gemeinsame Interessen hätten. Und man hätte die Fehler erkannt, die man in der Weimarer Zeit gemacht hatte. So betrachtete man beispielsweise in der kommunistischen Bewegung die Politik der „Revolutionären Gewerkschafts-Opposition“ (RGO) zur Zeit der Weimarer Republik als verfehlt.
Man brauche zweitens ein System von Industriegewerkschaften oder einer Einheitsgewerkschaft, die sich in unterschiedliche Industriegewerkschaften aufteilt, jenseits der ehemaligen Berufsgewerkschaften mit seinen zünftlerischen Akzenten. Das System der Einheitsgewerkschaft auf industriegewerkschaftlicher Basis passte, wie Abendroth ausführt, zu einem allgemeinen sozialistischen Trend in jenen Jahren. So hatte man beispielsweise in Frankreich oder Italien den Übergang zu einer sozialistischen Ordnung auch in den Verfassungen angeregt oder offengelassen.

18:45: In dieser allerersten Phase hatte diese Entwicklung auch die Zustimmung der Massen. Für die Massen selbst war die Niederlage des Dritten Reiches ein böses Aufwachen, sagt Abendroth.


Rückblende: Haltung der Industriearbeiter im Dritten Reich

19:28: Für Abendroth hatte sich die ungeheure Mehrheit der deutschen Industriearbeiter nicht mit dem Dritten Reich identifiziert. Die Industriearbeiterschaft sei skeptisch, aber auch nicht mehr unbedingt ablehnend danebengestanden. Die Arbeiterschaft war in der DAF, dem nationalsozialistischen Einheitsverband von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, organisiert. Sie hatte seit 1934/35 den Kampf der kleinen Widerstandsgruppen nicht mehr gefordert; das sei zu gefährlich gewesen. Und diese Massen waren im Dritten Reich aus dem totalen Hunger des Höhepunktes der Weltwirtschaftskrise in ein, wenn auch geringes, Lebenshaltungsminimum hineingeraten. Und das sei aus ihrer Perspektive und mit Blick auf die Weltwirtschaftskrise ein Fortschritt gewesen.
Die Massen der Industriearbeiter hätten es hingenommen, dass sie diesen Fortschritt durch die Rüstungsplanung der Industriellen und des Dritten Reiches erlangt hatten. Sie hätten weiter gehofft, dass daraus keine Totalkatastrophe folgen würde. Abendroth betont, dass die Industriearbeiterschaft auch den Krieg nicht mit Begeisterung aufgenommen hatte; 1939 sei eben kein 1914 gewesen. Der Krieg selbst brachte zunächst die unerwartet großen militärischen Erfolge des Dritten Reichs. Und im Unterschied zum Ersten Weltkrieg hatte sich der Lebensstandard nicht gesenkt, da dem Dritten Reich ganz Europa als Ausbeutungs- und Erpressungsgelände zur Verfügung stand. So hätten die Massen alles hingenommen, wenn auch nicht begeistert, nur mit gelegentlichen kurzen Begeisterungstaumel etwa beim Sieg über Frankreich: „Sie hatten das alles akzeptiert. Auch den Krieg gegen die Sowjetunion“, resümiert Abendroth.

22:36: Die Kriegsentscheidung fiel faktisch in der Dezemberschlacht 1941 vor Moskau. Die Massen hätten das aber erst nach Stalingrad 1943/44 bemerkt. Zudem steigerte sich der „Luftangriffsterror“ gegen das Dritte Reich. Den Begriff „Terror“ will Abendroth hier nicht negativ verstanden wissen. Der Luftkrieg sei ja von den Deutschen gegen die Engländer schon vorher mit denselben Mitteln geführt worden und im Kampf gegen den Mord des Dritten Reichs war für Abendroth jedes Mittel gerecht; hierzu erinnert Abendroth an die während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen Ermordeten 20 Millionen Menschen in Russland.

24:41: Durch das Absinken der Kraft zur Ausbeutung des Auslands und der Ausbeutung importierter ausländischer Zwangsarbeitskräfte auf der einen Seite, durch Luftangriffe und Unsicherheiten auf der anderen Seite, begann die Stimmung in den deutschen Massen immer skeptischer zu werden. Zur Aktion reichte es aber nicht – es sei denn in den allerletzten Kriegstagen.


Gewerkschaft, Betriebsverfassung und Vergesellschaftung als politische Ziele während der Besatzungszeit

25:36: Als nach dem Krieg das Besatzungsmachtregime installiert war, wurde der Appell der illegalen Kleinstgruppen zur Wiedergründung der Gewerkschaften aufgegriffen. Der Vorgang konnte sich im Westen nur regional, in der sowjetischen Zone nur zonenweit durchspielen. Aber der Appell war, so Abendroth, überall da und wurde überall mit ähnlichen Zielvorstellungen befolgt.

26:45: Die neue Gewerkschaftsbewegung setzte sich umfassende Betriebsvertretungsrechte und die Transformation des sozioökonomischen Bereichs in Richtung des Sozialismus als Ziel. Diese Zielsetzung sozialistischer Planwirtschaft konnte man zu dieser Zeit in westlichen wie östlichen Gewerkschaften und getragen von allen Richtungen der Gewerkschaften beobachten. Und daher kann man diese Forderungen auch im Gründungsprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes von 1949 finden, der sich erst nach der Gründung der Bundesrepublik konstituieren darf.

28:50: Abendroth skizziert nun, was dieser Entwicklung vorausgegangen war. Die Bergarbeiter im Ruhrgebiet und Metallarbeiter in anderen Zentren wussten, so Abendroth, dass ihre Manager bis zum bitteren Ende mit den Nazis mitgespielt hatten. Unternehmen wie Thyssen, Klöckner oder IG Farben hatten im Krieg riesige Ausbeutungsunternehmen in den besetzen Gebieten gegründet. Sie hatten sich Zwangsarbeiter aus anderen Ländern „zum Verheizen“ liefern lassen.
Das hätten die Arbeiter in Deutschland auch schon vorher gewusst, aber mangels Kampfkraft nicht mehr bekämpft. Das habe nun aber die Programmatiken beeinflusst.
Weiter hatten vor der Gründung des DGB die Arbeiter in einzelnen Betrieben zeitweise die Macht übernommen. Die Besatzungsmächte akzeptierten die zeitweilige Beschlagnahme, da sie später selbst darüber verfügen konnten, wie die Neuordnung aussehen sollte. Neben dem von den Besatzungsmächten rasch wieder eingesetzten Teils des früheren Managements erhielten nun die Betriebsräte etwa im Ruhrgebiet große Rechte. Die Überleitung in Vergesellschaftung wurde aber im Westen von den Besatzungsmächten nicht gestattet. Abendroth erinnert daran, dass dies im Ruhrgebiet über Gesetze im Landtag sogar mit Stimmen der CDU erfolglos versucht wurde.


Kalter Krieg und deutsche Teilung

34:30: Abendroth verweist darauf, wie sehr diese Entwicklungen von den internationalen Bedingungen abhing. Mit Beginn des Kalten Kriegs 1947 hätten die Amerikaner nun die  Entwicklung zu möglichen Vergesellschaftungen in allen westeuropäischen Staaten blockiert. Das kapitalistische System wurde restituiert. Und die USA waren, so Abendroth weiter, in der besonderen Lage, als einzige industrielle Macht den Krieg ohne jeden Kriegsschaden und nur mit Gewinnen überstanden zu haben und nun ökonomisch die Welt beherrschen zu können. Alle anderen Nationen waren schwer angeschlagen. Und so konnte die USA auch die Entwicklung in Großbritannien, Italien, Frankreich und Deutschland beeinflussen.
In der Bizone war es, nach einer Hungerperiode, langsam wieder zu einer Steigerung des Lebensstandards gekommen. Die Arbeiter hätten sich von solchen Fortschritten beeindrucken lassen. Zumal in der sowjetischen Besatzungszone die Lage wegen der zerstörten Wirtschaft in der Sowjetunion und den östlichen Ländern, der Entnahme der Reparationen aus der sowjetischen Zone und dem Ausbleiben der vereinbarten Reparationen aus den westlichen Zonen schwierig blieb: Trotz der Arbeitsintensität jener Zeit, von der man sich heute kaum noch eine Vorstellung machen könne, sei der Lebensstandard in der Bizone, aber nicht in der sowjetischen Zone gestiegen.

41:15: In dieser widersprüchlichen Lage ereignete sich die Wiederherstellung der Gewerkschaftsbewegung und die Wiederherstellung des Betriebsverfassungsrechts. Am Betriebsverfassungsrecht spiegelt sich für Abendroth die „welthistorische Groteske“:

Im Kontrollrat kam 1946 ein von allen vier Alliierten beschlossenes Betriebsrätegesetz zustande. Die russische Seite habe bis zur Währungsreform an ein einheitliches Deutschland und damit ein einheitliches Europa geglaubt – ohne ein Bündnis gegen die Sowjetunion. Sie stimmte daher diesem Gesetz zu, obwohl die Rechte in ihrer Zone viel weiter gingen. Das Gesetz des Kontrollrats stellte damit den Zustand von 1920 wieder her: das Betriebsrätegesetz der Weimarer Republik und damit das Ergebnis der Niederlage der Arbeiterklasse (siehe Teil 2 dieses Seminars).
Dieses Betriebsrätegesetz entsprach aber nirgends der Realität. In der sowjetischen Zone hatten die Sozialisierungen begonnen und waren in ein planwirtschaftliches System übergegangen. In den übrigen Zonen waren die Positionen der Arbeiterschaft auch stärker als in diesem Gesetz beschrieben, da sich die Arbeiter in vielen Betrieben vorübergehend die Direktionsgewalt über das Management aneignen konnten. Faktisch war ihre starke Stellung noch weitgehend da, auch wenn ihnen auch keine Vergesellschaftung oder rechtliche Befehlsgewalt zugesprochen wurde und sie auch immer wieder durch Betriebsabbau bedroht wurden.
Das Betriebsrätegesetz des Kontrollrats blieb also als „Minimaldarstellung“ der Wirklichkeit weit hinter der Wirklichkeit zurück.

45:42: Mit der vollen Spaltung Deutschlands (mit der Währungsreform) entwickelte sich die Situation nun vollständig anders. In der Bizone bzw. der späteren Trizone konnte man die alten Besitzlagen restituieren und das Beschlagnahmeverhältnis löste sich wieder auf, das sich in der britischen Besatzungszone und teilweise in der amerikanischen Besatzungszone entwickelt hatte. Damit parallel und zusammenhängend wurde auch die Verfolgung nazistischer Verbrecher aufgegeben. Großmanager wurden aus der Haft entlassen und kehrten in ihre Positionen zurück. Und die Frage war wieder offen: Was wird aus den Rechten der Betriebsräte und den noch faktisch vorhandenen Mitwirkungsrechten?