Geschichte der Betriebsverfassung – Teil 4

Im vierten Teil seines Seminars widmet sich Wolfgang Abendroth der frühen Bundesrepublik: Anfang der 1950er Jahre verlor die Gewerkschaftsbewegung zwei für die Geschichte der Bundesrepublik zentrale Kämpfe – den Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz und den Kampf um das politische Streikrecht. Mit diesen Niederlagen waren endgültig alle sozialistischen Umbaupläne der Nachkriegszeit erledigt. Die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik war endgültig zementiert. Die Entscheidung war aber bereits in der Periode zuvor gefallen (siehe Teil 3).

00:00: Abendroth nennt stichpunktartig, was der nun beginnenden Periode vorausgegangen war: die Phase der sogenannten Bizone (1947), der Währungsreform (Juni 1948), der Londoner Beschlüsse (Februar bis Juni 1948), des Parlamentarischen Rats (September 1948) und der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland aus den drei westlichen Besatzungszonen heraus.

01:39: Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden die sozialistischen Umbaupläne, wie sie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch in den bürgerlichen Parteien akzeptiert worden waren, wieder über Bord geworfen und die Wirtschaftsordnung aus der Zeit vor 1933 wiederhergestellt.

02:30: Auch die Gewerkschaften rekonstituierten sich jetzt wieder bundeseinheitlich im Deutschen Gewerkschaftsbund und es kam zum Zusammenschluss der einzelnen Industrieverbände zu bundeseinheitlichen Industriegewerkschaften.
Diese Gewerkschaften standen nun vor der Frage, ob sie trotz des kapitalistischen Wiederaufstiegs versuchen sollten, wenigstens Teile der vor dem Krieg eroberten Macht- und Rechtspositionen zu halten.

Programmatisch hatten die Gewerkschaften im Münchner Grundsatzprogramm des DGB (1949) zum Ausdruck gebracht, dass sie an ihren Zielen Mitbestimmung, Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum sowie staatliche Wirtschaftsplanung festhielten. Es war den Gewerkschaften jedoch nicht klar, wie sich die Masse der Arbeitnehmer verhalten würde und ob sie bei den Arbeitnehmern breiten Rückhalt für Ihre Ziele hatten. In der Periode vorher hatte es zwar große Streikbewegungen gegeben, wie den Demonstrationsstreik in der Bizone am 12. November 1948, der sich gegen den Restitutionsplan gerichtet hatte. Aber es blieb offen, wie sich die Lage entwickeln würde, wenn der Lebensstandard im Westen erheblich wächst, während er gleichzeitig in der sowjetisch besetzten Zone entschieden zurückbleibt.

 

Kampf um das Mitbestimmungsgesetz von 1951

05:40: Die Frage stellte sich sofort am Problemkreis der Mitbestimmungsrechte, die sich die Arbeitnehmer der Montanbereiche (Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie) im Ruhrgebiet erkämpft hatten. Diese Rechte mussten jetzt durch die Existenz des neuen Rechtsgebäudes der Bundesrepublik Deutschland bundesrechtlich „umgegossen“ werden. Die Bundesregierung unter Konrad Adenauer und die tragenden Parteien der Bundestagsmehrheit ließen keinen Zweifel daran, dass sie die paritätischen Mitbestimmungsrechte im Montanbereich beseitigen wollten. Und so seien entsprechende Gesetzentwürfe von einer Ministerialbürokratie fabriziert worden, die sich nicht zuletzt aus ehemaligen nationalsozialistischen Juristen rekrutierte.

07:40: Die Gewerkschaften und die Massen der Arbeitnehmer stellten sich entschlossen dagegen und wollten mindestens im Montanbereich ihre Mitbestimmungsrechte erhalten. Und so entwickelte sich ein vollständiger Widerspruch zwischen den Stellungnahmen der Gewerkschaften und denen der Regierung. Die Gewerkschaften forderten ein Mitbestimmungsgesetz, das Mindestpositionen enthalten müsse: Arbeitnehmer bzw. Gewerkschaften sollten genauso viele Sitze und Entscheidungsgewalt im Aufsichtsrat erhalten, wie die Anteilseigner bzw. Arbeitgeber als Repräsentanten des Kapitalinteresses. Die Regierung lehnte dies ab. Die Gewerkschaften erwiesen sich aber als kampfwillig und in einer Urabstimmung in der IG Metall und in der IG Bergbau wurde zu Beginn des Jahres 1950 ein Generalstreik für den Fall beschlossen, dass das Mitbestimmungsgesetz alle Machtbefugnisse der Betriebsräte beseitigen sollte. Die Adenauer-Regierung schreckte davor zurück – allerdings erst nach langen Auseinandersetzungen, wie Abendroth betont.

10:13: Es stellte sich nun die Frage, inwieweit das Streikrecht reiche. Das Grundgesetz sicherte zwar das Koalitionsrecht und das Streikrecht. Es wurde aber zur herrschenden Meinung innerhalb der „restituierten“ Jurisprudenz (Abendroth nennt sie „die alten DAF-Gelehrten“), dass das Streikrecht nur bei der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen Unternehmer und Gewerkschaften zu gelten habe, und das auch nur in Grenzen. Ein Massenstreik für gewerkschaftliche Forderungen sei dagegen eine Staatsnötigung.

Diese Theorie der herrschenden Richtung in der Jurisprudenz, die mit dem Verfassungstext gar nichts zu tun hatte, wurde den Gewerkschaften von der Regierung entgegen gehalten und die Gewerkschaften wurden kompromissbereit, weil sie sich eben nicht sicher waren, ob sie unter diesen Bedingungen noch siegen könnten. Dazu hätte man schließlich auch die Massen der Arbeiter in anderen Branchen mitreißen müssen. Und Abendroth spitzt zu: Man konnte ja nur siegen, wenn das Stabilisierungsbewusstsein nicht schon weitgehend das Reformbewusstsein erschlagen hatte.

13:17: Abendroth skizziert die schwierige Entscheidungslage noch einmal etwas ausführlicher: Die Abstimmungen bei IG Bergbau und IG Metall hatten überwältigende Mehrheiten für einen Generalstreik ergeben. Aber die Gewerkschaften wussten nicht, ob die Situation in anderen Branchen anders aussah. Außerdem war nicht einzuschätzen, ob die Kraft für einen längeren Kampf ausreichte.
Weiter gibt Abendroth zu bedenken, dass man ja auch nur in solchen Bereichen und Gebieten über den Generalstreik abgestimmt hatte, in denen die CDU zumindest formell von der Linie der Bundesregierung abwich.
Für Abendroth bot nämlich die Seite der Staatsgewalt eine groteskes Bild: In der Zeit, in der die Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung liefen, hatte die CDU Nordrhein-Westfahlen noch einem Verfassungsartikel für das Land Nordrhein-Westfahlen zustimmt, der dem Staat die Vergesellschaftung aller monopolistischen Unternehmungen zur Pflicht machte (Verf NRW, Art. 27).

15:02: So kam es zum sogenannten Böckler-Kompromiss mit Adenauer, der das Mitbestimmungsgesetz von 1951 zum Ergebnis hatte und die paritätische Mitbestimmung zumindest in der Montanindustrie verankerte. Für Abendroth blieb dies ein Kompromiss „von sehr zweifelhafter Art“, denn nun saßen zwar gleich viele Vertreter der Arbeitnehmer wie Vertreter der Kapitalinteressen in den Aufsichtsräten, aber bei Stimmengleichheit entschied am Ende der Aufsichtsratsvorsitzende, der von der anderen Seite gestellt wurde.

16:22: Die Auseinandersetzung hatte für Abendroth gezeigt, was die Regierungsparteien bis dahin haben verschleiern wollen: dass sich das gewerkschaftliche Interesse zum Interesse des gesamtkapitalistischen Wirtschaftssystems antagonistisch und widersprüchlich verhält. Der Staat wie die Unternehmerseite hätten diesen Widerspruch immer wieder – in Lohnauseinandersetzungen, in arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Auseinandersetzungen und in der Frage der Einflussnahme auf die öffentliche Gewalt – durch ihr Handeln deutlich gemacht.

 

Der Zeitungsstreik von 1952 und das Betriebsverfassungsgesetz

20:38: Für Wolfgang Abendroth zeigte sich in der nächsten großen Auseinandersetzung, beim Zeitungsstreik von 1952 und im Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz, dass sich Rechts-, Staats- und Justizapparat relativ stabil in der Hand der Gegenseite befand und wie sich dieser Apparat nach dem Krieg mit dem alten Personal wiederhergestellt hatte.

21:34: So seien etwa in Hessen 1950 über 60% der Richter ehemalige Mitglieder der NSDAP gewesen. Und in anderen Bundesländern waren die Verhältnisse noch schlimmer, so Abendroth. Entsprechend schnell habe sich auch die ideologische Wiederaufrichtung des Staatsapparats vollzogen. Zwar habe man den Antisemitismus nach außen zurückgezogen, aber den Antibolschewismus als Brücke gebaut, um das alte Denken wiederherzustellen. Und so sei es kein Wunder gewesen, dass man auf Seiten des Staates auch in arbeitsrechtlichen Fragen entsprechend Stellung bezog.
Abendroth verweist dabei immer wieder, mal direkt mal indirekt, auf die Stellungnahmen von Hans Carl Nipperdey zum Betriebsverfassungsgesetz. Nipperdey hatte im Dritten Reich Karriere gemacht, war Kommentator des nationalsozialistischen „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (1934) und galt als führender Arbeitsrechtler des Dritten Reichs. Nipperdey habe wie viele seiner juristischen Kollegen in den Kategorien von Volksgemeinschaft und Führerprinzipien gedacht, so Abendroth. Im Jahr 1954 wurde zum ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts ernannt.

26:10: Mit dem Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz hofften nun die Gewerkschaften wenigstens die Rechtspositionen der Betriebsräte stärken und absichern zu können. Und also begann im DGB und in den Gewerkschaften die lange Auseinandersetzung um die Programmatik zum Betriebsverfassungsrecht. Ebenso rasch kam der Gegenschlag der Bundesregierung mit dem Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes.

27:42: Die Unternehmerverbände verlangten, dass allein das Gesamtinteresse des Unternehmens zu wahren sei und die Generalnorm bilden müsse. Und das hieß für sie zum Beispiel, dass Betriebsräte bei der gewerkschaftlichen Organisation von Arbeitskämpfen keine Funktionen übernehmen dürften, weil sie das gesamtwirtschaftliche Interesse des Betriebes zu schützen hätten.

29:40: Der DGB begann dann eine Kampagne mit Gegenentwürfen um das Volksgemeinschaftsdenken im Gesetzentwurf der Regierung zu beseitigen. Die Frage war nun, wie man sich durchsetzen konnte. Die Bundestagsmehrheiten waren klar. Und es kam die Frage auf, ob man es wieder, wie zuvor beim Mitbestimmungsgesetz, mit einer Streikdrohung und einem Streik versuchen sollte. Darüber war man in den gewerkschaftlichen Spitzen sehr unterschiedlicher Meinung. Denn inzwischen hatte der Aufschwung der Wirtschaft schon deutlich angesetzt und der Lebensstandard der Arbeitnehmer war im Wachsen. Die Kampfbereitschaft in der Arbeitnehmerschaft schwand.